Interview mit Peter Steger, Präsident der IG MedCan und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Cannabis in der Medizin (SGCM), zur Auswirkung der Neuregelung von medizinischem Cannabis in Deutschland auf den Schweizer Markt.
1. Seit dem 1. August 2022 haben Patienten und Patientinnen in der Schweiz Zugang zu medizinischem Cannabis, sobald der behandelnde Arzt dies für notwendig erachtet, ohne dass eine Ausnahmebewilligung des Bundesamts für Gesundheit (BAG) notwendig ist. Wie hat sich der medizinische Cannabis-Markt in der Schweiz entwickelt in den letzten zwei Jahren?
Diese Öffnung des Marktes war zunächst mit der Hoffnung verbunden, dass Ärzte nun leichter Cannabis-Betäubungsmittelrezepte ausstellen würden. In der Praxis hat sich jedoch gezeigt, dass viele Ärzte nach wie vor zögerlich sind, solche Rezepte auszustellen. Insbesondere, da beim Verschreiben von Cannabisarzneimitteln im Vergleich zu sonstigen Verschreibungen weiterhin ausserordentliche Hürden bestehen:
A) der Patient wünscht eine Therapie (mit Cannabisarzneimittel) über die der Arzt meist wenig Wissen mitbringt.
B) Er/sie muss ein magistrales Rezept ausstellen. Ein Vorgang, der der Ärzteschaft eher fremd und mit zusätzlicher Unsicherheit versehen ist.
C) Die Ärzteschaft muss betreffend der Abgabe einen Eintrag im Betäubungsmittelbuch führen und dem BAG in jedem Einzelfall Daten liefern.
D) Um die Rückvergütung durch die Krankenkasse muss sich die Ärzteschaft auch noch kümmern, da dies der Patient alleine nicht kann.
E) Da es sich im Bereich der Cannabisarzneimittel selten um Fertigarzneimittel handelt, die die Ärzteschaft selber verkaufen könnte, entgeht ihnen nach all dem zuvor gezeigten Aufwand auch die Möglichkeit über den Verkauf des Mittels Umsatz zu generieren.
Insgesamt bleibt der medizinische Cannabis-Markt in der Schweiz in einer Übergangsphase, in der das Potenzial noch wenig ausgeschöpft wurde, insbesondere aufgrund der anhaltenden Zurückhaltung bei der Verschreibung durch die Ärzteschaft. Die aufgrund der oben gezeigten Gründen ausgelöste anhaltende Zurückhaltung der Ärzteschaft führte dazu, dass die Abschaffung der Ausnahmebewilligung allein keinen wesentlichen Einfluss auf die Anzahl der Verordnungen in der Schweiz hatte. Der Schweizer Binnenmarkt für medizinisches Cannabis konnte in dieser Phase kaum nennenswerte Gewinne verzeichnen. Der Absatz blieb gering, und die Erwartungen an die Preisentwicklung erfüllten sich nicht im erhofften Masse.
2. In Deutschland ist die Verschreibung von medizinischem Cannabis schon seit 2017 etabliert. Seit dem 1. April 2024 wird in Deutschland für die Verschreibung von Cannabis kein Betäubungsmittelrezept mehr benötigt und medizinisches Cannabis wird künftig nicht mehr durch das Betäubungsmittelgesetz reguliert. Stattdessen fällt Cannabis für medizinische Zwecke unter das neu geschaffene MedCanG. Was ist deine Einschätzung zu dieser neuen rechtlichen Einstufung von Cannabis? Hat Deutschland mit der Neu-Regulierung eine globale Führungsrolle übernommen?
Ja und Nein. Eine Führungsrolle hat Deutschland sicherlich übernommen, die aber nicht zwingend als Vorbild für die Schweiz dienen soll. Es gibt zu viele offene Fragen. Das kann die Schweiz besser machen. Die Anbau-Clubs und die Kontrolle, was den Eigenbesitz von Cannabis anbelangt, sind nicht klar geregelt und das bringt Risiken auf vielen Ebenen. Wir befinden uns in Deutschland in einer Übergangsphase. Momentan hilft dies temporär dem medizinischen Sektor, aber das kann sich schon bald um 180 Grad drehen. Im Grunde wurde in Deutschland wenig dafür getan, den medizinischen Markt vom Freitzeitmarkt produktspezifisch sinnvoll abzugrenzen. Einzig die augenblicklich recht hohe Rückvergütungsrate über die Krankenkassen sind ein positives Zeichen für die Patienten, obwohl genau dies natürlich auch wieder von Freitzeitkonsumenten ausgenutzt werden kann, mit Bumerang-Effekt am Ende für die Patienten.
Aufgrund der rechtlichen Neuordnung kommt es im Augenblick zudem zu merkwürdigen Verwirrungen im Grenzverkehr. Momentan können wir bspw. kein Hanfsamenöl (Lebensmittel) in Deutschland analysieren lassen, weil das irgendwie mit dem Medizinalcannabisgesetz verknüpft wurde. Die genauen Gründe sind unklar.
3. In einem aktuellen Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (DE) wurde festgehalten, dass neu bestimmte Arztgruppen ohne Genehmigungsvorbehalt durch die Krankenkasse Cannabis verschreiben können. Wie ordnest du diesen Beschluss ein?
Der Kreis der Ärzte, die ohne Genehmigungsvorbehalt verschreiben können, wurde recht breit gezogen. Das ist positiv. Zudem bringt man den Hausärzten viel Vertrauen entgegen. Es ist auch erstaunlich, wie man das bei den starken Gegen-Lobbys durchgebracht hat. Die Bundesärztekammer und die Kassenärztliche Bundesvereinigung waren dagegen. Man muss auch das deutsche System kennen. Telemediziner sind keine Vertragsärzte und können somit auch nicht so einfach auf Krankenkasse verordnen. Es ist aber schon sehr erstaunlich, dass Mittel, zu denen es keine spezifischen klinischen Studien gibt, so einfach von den Krankenkassen vergütet werden. Die Krankenkasse kann zwar im Einzelfall immer noch ablehnen, auch nach dem G-BA Beschluss, aber das ist dennoch ein recht revolutionärer Schritt für die Medizinalcannabis-Branche. Das ist in unserem Krankenkassensystem in der Schweiz leider kaum vorstellbar.
Angst haben in Deutschland die Ärzte jedoch generell vor Regressforderungen der Krankenkassen (etwas, was wir zum Glück in der Schweiz in der Art nicht kennen). Das Regress-System in Deutschland ist ein scharfes Schwert. Eine Basisausbildung für Mediziner zum Thema Cannabis wäre eine gute Option, um den Ärzten einen Wissensvorsprung zu verschaffen, welcher ihnen die Angst vor Regressen nehmen könnte.
Tschechien hat eine kurze spezielle Ausbildung für die Verordnung von Cannabis eingeführt und nur Ärzte, die die Ausbildung absolviert haben, können es auf die Kasse verschreiben. Dort liegt die Rückvergütung bei über 90 %.
4. Seit in Deutschland medizinisches Cannabis auf Privatrezept verordnet werden kann, ist der Umsatz deutlich gestiegen. Zudem sind die Preise für medizinisches Cannabis in den letzten Jahren stark gesunken und bewegen sich auf dem Niveau mit den Preisen von Schwarzmarkt-Cannabis und teilweise sogar darunter. Wann werden in der Schweiz medizinische Blüten unter 10 Franken pro Gramm erhältlich sein?
Ein paar 1000 Patienten haben heute ein Produkt, welches sie verordnet erhalten. Wenn sich das ändert und es deutlich mehr Verschreibungen gibt, wird der Tipping-Point schnell erreicht werden, wo die Preise sinken. Die Abläufe der GMP-Produzenten werden immer besser und die langen Lieferketten und die Zwischenhändler wirken sich aktuell auf die hohen Preise aus. Die Preise sind bereits am sinken und werden weiter fallen.
5. Sind die Schweizer Produkte konkurrenzfähig?
Dank hoher Produktionsstandards, Innovationskraft, wachsender Expertise und strategischer Lage sind wir international absolut konkurrenzfähig und werden durch weitere Optimierungen in Zukunft noch wettbewerbsfähiger.
6. Die Medien berichten, dass offenbar gewisse Firmen die neue liberale Regulierung missbrauchen und offensiv Marketing für medizinisches Cannabis betreiben. Im Fokus der Debatte stehen vor allem die telemedizinische Verordnung von Cannabis und die Verordnung mittels E-Mail Rezept (Süddeutsche / TAZ / n-tv). Ist der Zugang zu medizinischem Cannabis in Deutschland zu niederschwellig ausgestaltet?
Telemedizin im Zusammenhang mit dem Verschreiben, von dem was man in der Schweiz als Formula-Arzneimittel bezeichnet (unter diese Kategorie fallen im Grunde alle Cannabisarzneimittel ausser Sativex und Epidyolex), ist heikel. Ganz allgemein ist die Tendenz, dass man weder Arzt noch Apotheker in personam sieht und auf dieser Basis eine Therapie beginnt, heikel. Der Umstand, dass auf diesem Weg Formula Arzneimittel im grossen Stil unter die Leute kommt stört die Pharmabranche. Sie beobachtet dies mit Argusaugen. Normalerweise kann man davon ausgehen: “The Empire strikes Back“ – solche Maschen haben eine begrenzte Lebensdauer. Es ist nicht unbedingt die Politik, die die Gesetze wieder ändern wird, wenn zu viele Missbräuche stattfinden. Die Pharmaindustrie wird sich hier bemerkbar machen und mit ihrer Lobby aktiv werden. Also sollte man das System nicht überstrapazieren. In Deutschland sehe ich leider klare Tendenzen in dieser Hinsicht.
In der Schweiz ist das Zusammenspiel zwischen dem Versandhandel und der Telemedizin zum Glück noch nicht so gefestigt. Dazu gibt es verschiedene Gründe und die SGCM ist froh ist dem so. Wenn kein persönlicher Kontakt zwischen Arzt und Patient stattfindet, birgt die Verordnung von Cannabis ein erhebliches Missbrauchsrisiko und der Therapieerfolg ist gefährdet. Jede Therapie ist nur so gut wie das Timing der Einnahme der richtigen Dosis. Dieser anerkannte wissenschaftliche Fakt ist für die Cannabistherapie umso bedeutsamer.
7. Die Endlich-Kampagne von Four20 Pharma hat hohe Wellen geschlagen. Was meinst du zum Vorwurf der versteckten Heilmittelwerbung (vgl. Beitrag der FAZ)?
Die radikale Ansicht ist folgende: In der Schweiz gibt es ein Grundsatzurteil zum Thema Migräne und „Triptane“, das ein ähnliches Vorgehen als indirekte Werbung gewertet hatte. Produktbezogene Werbung für rezeptpflichtige Präparate ist illegal. Hier bewegt sich die Kampagne an der Grenze. Gewisse Aussagen in der Kampagne sind jedoch geschickt gewählt und funktionieren aus meiner Sicht.
8. Haben die seriösen Anbieter von medizinischem Cannabis letztlich das Nachsehen, weil sie sich an die Regeln halten?
Ja, aus meiner Sicht kann man das so sehen. Auf der anderen Seite werden die seriösen Anbieter, die ihre Milchbuchrechnung richtig gemacht haben, auch den längeren Atem haben. Von dem her muss man das nicht so kritisch sehen.
9. Die Lizenzvergabe für Produzenten wurde deutlich vereinfacht mit der Einführung des Medizinalcannabisgesetzes. Es wurden Lizenzen für eine «unbegrenzte Produktion» vergeben. Welche Chancen haben Schweizer Produzenten von medizinischem Cannabis auf dem deutschen Markt?
Das ist schwer zu sagen. Mein Eindruck ist, dass es unterdessen viele Anbauer und Hersteller hat. Kann also ein Schweizer Produzent aufgrund seiner Qualität und seiner Verlässlichkeit auf dem deutschen Markt mithalten? Grundsätzlich denke ich das schon. Vor allem, wenn er seine “Rechnung” richtig macht. Viele Hersteller haben aufgrund des ersten Booms etwas sehr optimistisch gerechnet, für diese wird es schwierig. Wer realistisch rechnet und viel Durchhaltewillen mitbringt, der hat sicher Chancen auch auf dem deutschen Markt.
10. Was müsste in der Schweiz verbessert werden, damit Patienten und Patientinnen einen angemessenen Zugang zu einer Therapie mit Cannabis erhalten?
Die in Frage 1 geschilderten Hürden bei den Ärzten müssen abgebaut werden. Zudem muss mit den Krankenkassen über ein System nachgedacht werden, wie softe Faktoren wie allgemeines Wohlbefinden und “Verträglichkeit” des Patienten für seine Angehörigen, sowie allfälliges reduzieren nebenwirkungsbelasteter anderer Medikamente und diesbezüglich finanzielle Entlastungen seitens der KK noch mehr einfliessen können, respektive wie solche Faktoren das fehlen klinischer Studien übersteuern können. Dies ist eine meiner Hauptaufgaben im Zusammenhang mit meiner Tätigkeit bei der SGCM und der IG MedCann. Wenn wir hinkriegen, dass die Patienten einfacher zu einer Rückvergütung kommen, dann haben wir auch den Hebel, wie wir den medizinischen Markt von einem zukünftigen Freizeitmarkt trennen können und genügend motivierende Faktoren besitzen, sodass die Patienten unter der Betreuung des Arztes bleiben und die qualitativ geeigneten Mittel über die Apotheke beziehen.
Peter Steger ist Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Cannabis in der Medizin (SGCM), wo er sich stark im Bereich Politik engagiert und sich für die Interessen der Patienten und die Implementierung von Standards in der Forschung, Herstellung und Anwendung von medizinischem Cannabis einsetzt. Er ist auch Präsident der IG MedCan, welche 2018 von Schweizer Herstellern von Cannabismedikamenten gegründet wurde und sich für einen sicheren und nachhaltigen Markt für medizinisches Cannabis in der Schweiz einsetzt.
Medienbeiträge zum Thema medizinisches Cannabis:
- Münchner Arzt klagt an: So fahrlässig stellen Mediziner Cannabis-Rezepte aus (heidelberg24.de)
- Konsum zu Genusszwecken: Missbrauch von Medizinalcannabis? BMG beobachtet und wertet aus (deutsche-apotheker-zeitung.de)
- https://www.handelszeitung.ch/bilanz/schweizer-cannabis-farmer-hoffen-auf-berauschende-geschafte-733126
- https://www.blick.ch/fr/news/suisse/les-lois-sassouplissent-en-europe-les-cultivateurs-suisses-de-cannabis-ont-des-dollars-dans-les-yeux-id19984613.html?utm_source=whatsapp&utm_medium=social&utm_campaign=share-button&utm_term=blick_app_ios
- Beiträge der IG Hanf Schweiz:
- Vergleich der Regulierungsmodelle Schweiz / Deutschland – IG Hanf Schweiz